Wir blicken auf eine Welt, in der sich scheinbar gesicherte Realitäten und damit verbundene Werte gerade wieder aufzulösen scheinen. Das Drama um Griechenlands Eingliederung in die von der EU verordnete Austeritätspolitik hat den Glauben an eine Gemeinschaft, in der ideelle Konzepte Vorrang gegenüber materiellen haben, nachhaltig erschüttert. Die Flüchtlingswelle, die in den letzten Wochen und Monaten nicht nur Österreich und Deutschland erfasst hat, stößt auf das Unvermögen politischer Willensbildung. Die offene Gesellschaft wird mehr denn je hinterfragt.
Das erste Dossier dieser Ausgabe von kolik.film, das schon vor dem Akutwerden dieser beiden Ereignisse in die Planung ging, behandelt Fragestellungen, die nicht aktueller sein könnten: Wie kann das Kino auf Krisen, die so umfassend und nachhaltig wie die gegenwärtigen sind, noch adäquat reagieren? Miguel Gomes‘ dieses Jahr in Cannes präsentiertes Werk Arabian Nights, das sich aus drei Filmen zusammensetzt, wurde 2014 gedreht, in dem Jahr, als Portugal unter das Diktat der Austeritätspolitik gestellt wurde. Repräsentative Modelle wie sie das sozialrealistische Kino hervorgebracht hat, lässt Gomes links liegen. Stattdessen stellt er eine Vielzahl ästhetischer Strategien zueinander in Verbindung: ein Versuch, dem Dilemma einer Politik gerecht zu werden, die viele betrifft, aber ein anderes, offenes Erzählen braucht, um abbildbar zu werden. Auch der Italiener Pietro Marcello, der Russe Aleksej German Jr. und der Georgier Otar Iosseliani verlassen in ihren Filmen verbürgte Darstellungsweisen, um mit überraschenden ästhetischen Entscheidungen neue Blickschneisen zu öffnen. Die Krise (der Ökonomie, der Gesellschaft, der Politik) wird zur künstlerischen Herausforderung, Zusammenhänge zu erfassen, die in konventionellen Denkmodellen nicht berücksichtigt werden.
In unserem zweiten Dossier führen wir die Verschränkung von Privatem und Politischem fort. Wir haben Texte zu Dokumentar- bzw. Essayfilmen in Auftrag gegeben, die sich mit Krieg und Migrationsströmen beschäftigen und diese Krisenerfahrungen auch aus der Perspektive Einzelner beleuchten. Valdimir Tomics Flotel Europa, der VHS-Briefbotschaften bosnischer Flüchtlinge Anfang der 1990er-Jahre mit einem biografischen Text kombiniert, stellen wir Home von Rafat Alzakout gegenüber. Letzterer skizziert Gemeinschaftsbildung via Kunst und Kultur und damit die aktuelle Lage in der kleinen syrischen Stadt Manbidsch. Sowohl Tomic als auch Alzakout verwenden keine Kriegsbilder, kommen aber gerade durch die Konzentration auf singuläre Erfahrungen der Darstellung einer Kriegssituation sehr nahe. Im Anschluss untersuchen wir den jüngsten Film von Tina Leisch und Ali Can, der, wie der Untertitel des Films verrät, Einblicke in den kurdischen Widerstand erlaubt.
Das heimische Filmschaffen wird in dieser Ausgabe in vier Beiträgen präsentiert. Wir nehmen Andreas Horvaths Helmut Berger. Actor zum Anlass, um uns auch weitere Porträtfilme des Salzburger Regisseurs anzuschauen. Um Geschlechtertransformation geht es im außergewöhnlichen Dokumentarfilm FtWTF – Female to What The Fuck von Katharina Lampert und Cordula Thym. Jakob Brossmann und Peter Schreiner haben sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise dem Thema „Lampedusa“ angenommen, der kleinen Mittelmeerinsel, die seit Jahren ein ganz zentraler Schauplatz der Flüchtlingssituation ist. Ein weiterer Text beschäftigt sich mit dem intimen Porträt Albert Meisls über seinen demenzkranken Vater, eine Chronik eines verfallenden Körpers.
Im letzten Teil des Heftes beschäftigen wir uns noch einmal mit dem portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira. Besuch, oder Erinnerungen und Geständnisse zählte zu den Höhepunkten bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes, ein Film, den Oliveira 1981/1982 gedreht hat, den er aber erst nach seinem Tod veröffentlicht sehen wollte. Eine Ausstellungstour führt zur Venedig-Biennale-Schau All the Worlds Futures, und schließlich wenden wir uns noch einmal dem Blockbuster Mad Max: Fury Road (2015) des Regie-Veteranen George Miller zu, der aus unserer Sicht zurecht von der Kritik gefeiert wurde. Ganz zum Ende kam noch ein Text über Chantal Akerman hinzu, die sich zu unserer Bestürzung am 5. Oktober das Leben genommen hat. Ihr ist dieses Heft gewidmet.
Die Redaktion
Wien, im Oktober 2015